RESET
Im Bruchteil einer Sekunde

Von: Valérie Hug, 2023 (Instagram)

Diese Geschichte handelt vom Erinnern.
Diese Geschichte ist wahr, und dann wieder doch nicht.
Diese Geschichte ist deine Geschichte.

I

Du schliesst deine Augen. Die Sonne wärmt dein mit Sonnencreme eingeschmiertes Gesicht. Du siehst es nicht, aber auf deiner linken Wange und auf der Nasenspitze befinden sich noch zwei kleine, weisse Kleckse. Das passiert dir manchmal, immer dann, wenn du es kaum erwarten kannst, aus dem Haus zu kommen und in die Badi zu gehen. Du hättest die Sonnencrème sogar vergessen, hätte dich nicht deine Mutter daran erinnert. Widerwillig bist du nochmals zurück ins Badezimmer getrottet und hast diese dickflüssige, weisse Sauce viel zu hastig auf deinem Körper verteilt. Dir dauert diese Prozedur immer viel zu lange, das Einzige, was du daran magst, ist ihr Geruch. Er erinnert dich an die Ferien im Süden, an den Campingplatz, den Pool, an die bevorstehenden Sommerferien und an den freien Nachmittag, den du heute in der Badi verbringen wirst.Jemand schubst dich. Du öffnest deine Augen und merkst, dass sich die Schlange zum Badi-Kiosk merklich nach vorne bewegt hat, einige andere sind vorgedrängelt. Nur noch drei, zwei, eins und jetzt bist du an der Reihe. Vor dir, die schwierigste aller Fragen, gestellt von einem älteren Mann – nennen wir ihn Toni oder Koni, die Kurzform für Konrad– mit Sonnenhut und gebräunter, ledriger Haut, auf dem Gesicht das immergleiche, freundliche Grinsen: Was soll es heute sein? Vanille-Softeis, Erdbeere oder doch lieber gemischt? Du atmest tief ein, in deiner Nase der Geruch von Pommes. Kurz haderst du, trittst vom einen auf das andere Bein. Weil du dich nicht entscheiden kannst, wählst du den Kompromiss und watest zurück zum Platz, wo deine Freundinnen und Freunde bereits auf dich warten. In ihren Händen Waffeln und Holzstängel, an ihren Fingern tropft es herunter in allen Farben. Dort orange – Rakete. An einer anderen dunkelbraun mit kleinen Mandelsplittern – Magnum. Und links neben dir hellbraun – Schoggi-Cornet.

Doch das alles fällt dir gar nicht auf, auch nicht, wie das Vanilleeis deine Waffel hinunterrinnt und auf deine Badehosen tropft. Eins, zwei, drei, ein kleiner, milchiger Zuckersee, bald schon wird es so aussehen, als hätte es ihn nie gegeben. Das Chlor im Becken wird ihn wegwaschen, so, wie es auch deine Tränen weggewaschen hat, als du beim Rennen in die Badi der Länge nach gestürzt bist und dir die Ellbogen auf dem Kiesweg blutig geschlagen hast. Am Eingang der Badi hat dir Toni-Koni die Wunde desinfiziert – du hast dieses Brennen nie gemocht – und die kleinen Steinchen, die sich in der Schürfung eingenistet haben, hat er entfernt. Noch viele Jahre hat dich diese sichelförmige Narbe an diesen Nachmittag in der Badi erinnert. Und nicht wenige Male hast du diese Geschichte Freund*innen und Bekannten erzählt, immer dann, wenn es wieder warm genug war für das Tragen von T-Shirts und dich ihr Anblick an alte Zeiten denken liess. Doch erst kürzlich, vielleicht gestern, vielleicht letzte Woche, ist dir aufgefallen, dass die Narbe verschwunden ist. Über die Jahre hinweg hast du nicht gemerkt, wie sich ihre Spuren auf deiner Haut allmählich ins Nichts aufgelöst haben. Sie ist verblasst, hat sich davongestehlt, auf nimmer Wiedersehen. Alles, was dir von ihr bleibt, ist die Erinnerung an sie.

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II

Erinnerung. ER-INNER-UNG. Erinnern. Sich erinnern. Sich an etwas erinnern. Etwas in Erinnerung rufen.Warum erinnerst du dich an das, was du dich erinnerst? An dieses aber nicht an jenes? Warum verblassen manche Erinnerungen, sowie deine sichelförmige Narbe am rechten Ellbogen, anderes aber überdauert? Warum kannst du dich beim besten Willen nicht erinnern, was du gerade noch sagen wolltest, während anderes in deinem Kopf immerzu präsent ist, obwohl du gar nicht daran erinnert werden möchtest? Und wer ist eigentlich dieser Jemand, der darüber entscheidet, was bleibt und was vergeht? Was dir hängenbleibt, es Wert ist, erinnert zu werden und was vergessen werden soll?

Erinnerung. ER-INNER-UNG.

Hast du dich jemals gefragt, wie zuverlässig deine Erinnerungen sind? Warum sie plötzlich dann aufploppen, wenn dieser eine 90er-Song an der Party läuft, du dieses eine Gericht isst, das genauso schmeckt, wie wenn es deine Oma gekocht hätte? Hast du dich jemals gefragt, wieviel Wahrheit in deinen Erinnerungen steckt? Und ob es wirklich deine eigenen Erinnerungen sind, von denen du da erzählst? Oder wurden sie im Laufe der Zeit vielmehr zu den deinen? Erinnerst du dich wirklich an deinen ersten Schultag, oder ist es die Geschichte deiner Eltern, die zu deiner Erinnerung geworden ist? Und erinnerst du dich wirklich noch daran, welche Farbe die Trikots an deinem ersten Fussball-Grümpeli hatten, oder ist es vielmehr das Foto von damals, das dir sagt, sie waren lila?

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III

Es ist heiss. Eigentlich viel zu heiss, um bei dieser Hitze draussen in der prallen Sonne herumzurennen, Bälle zu kicken, über Hürden zu springen und Körbe zu werfen. Aber heute ist in der ganzen Schule Sporttag. Am meisten freust du dich auf das Fussball-Grümpeli am Nachmittag. Eure Gruppe hat sogar richtige Trikots bekommen, denn der Vater eines deiner Gspänli konnte welche über seine Bude sponsoren. Auf der Vorderseite gross das Firmen-Logo, auf der Rückseite die Nummern. Das hat für richtig grosse Augen gesorgt. Und dieses Mal hattest du Glück und konntest dir sogar deine Lieblingszahl schnappen.

Während du so am Zaun stehst, der den Sportplatz von der übrigen Umgebung trennt, fällt dir auf, dass sich hier nur wenig verändert hat. Sogar das kleine Häuschen mit Toiletten und den spartanischen Umkleidekabinen, da, am linken Rand der Wiese, hat noch denselben Anstrich wie damals.

Damals hast du so viel Zeit es geht, auf dem Sportplatz verbracht. Dich mit deinen Freund*innen verabredet, zum tschutte, zum spile und auch ins Training bist du gegangen, das einmal in der Woche auf eben dieser Wiese stattgefunden hat. Der Sportplatz war einer deiner absoluten Lieblingsorte.

Anders als auf deinem Schulweg musstest du auf dem Strässchen hinunter zum Sportplatz nicht am Gehege mit der Gans vorbei. Jedes Mal graute es dir vor diesem schnatternden Vogelvieh, das sich lauthals zu brüskieren und nach dir zu schnappen begann, sobald du in ihre Reichweite gekommen bist. Damals hattest du grosse Angst vor der mobbenden Gans. Diesen Namen hast du ihr erst später gegeben. Mittlerweile gibt es das Gehge nicht mehr, und auch die Gans ist fort.

Wie lange wird es wohl dauern, bis auch die Erinnerung an die Gans fort ist? Die Erinnerung an den Sportplatz – da bist du dir sicher – wird überdauern. Nicht nur, weil du auch heute noch ab und an Fussball spielst und dich immer wieder an deine Anfänge zurückerinnerst. Nein, dieser Ort war prägend für dich.

Was ist aber mit den simplen Dingen, den Details, die, die den Unterschied ausmachen und die für dich einmal die Welt bedeutet haben? Wirst du auch diese vergessen? Oder ist es bereits geschehen? Und ist dieses Gefühl, das da langsam in deiner Brust hochsteigt, etwa Angst? Angst zu vergessen? Fürchtest du dich etwa davor, dass wenn du die Erinnerungen an sie verlierst, gleichsam auch Teile von dir selbst verloren gehen?

Mit diesen Fragen im Kopf, machst dich zurück auf den Weg zum Bahnhof. Auch im Zug beschäftigen sie dich noch, nehmen dich völlig ein – von der Fahrt kriegst du kaum etwas mit. In der Grossstadt angekommen bahnst du dir einen Weg durch die vielen anonymen Gesichter. Ab und an begegnet dir eines, das dir seltsam vertraut vorkommt – die markanten Gesichtszüge der vorbeihastenden Passantin etwa hätten genauso gut die deiner Unihockey-Trainerin sein können. Und die Knollennase eines alten Mannes, der dir entgegenschlurft erinnert dich an den Busfahrer von damals. Hätte er es sein können? Wer weiss. Zum Glück erinnerst du dich noch, wo du dein Fahrrad abgestellt hast. Noch immer in Gedanken hast du nicht bemerkt, dass du nicht den schnellsten Weg nach Hause eingeschlagen hast. Dein Umweg führt dich eine Weile dem Fluss entlang. Kurz vor der Gabelung, die dich wieder zurück auf die Strasse führt, passierst du die Flussbadi. In der Luft, Chlor und Pommes.

Und dann, im Bruchteil einer Sekunde ist alles wieder da: Die Badi, das Softeis, der ledrige Toni-Koni, das Brennen von Desinfektionsmittel auf deiner Haut und der Geruch von Sonnencrème in der Nase.

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Archiv aller Plakate

Die Plakate hingen vom Juli 2023 – Juni 2024. Der wechsel folgte in einem zweimonatlichen Turnus.

ARCHIV

«Archiv einer Kindheit» die Kunstplakate 2023/24 in Uster

Alljährlich vergibt die Kulturkommission der Stadt Uster den Auftrag zur Gestaltung der Kunstplakatstellen an eine kunstschaffende Person.

Die Aktuelle Serie ist die fünfzehnte seiner Art und wurde von Gian Zarotti gestaltet. Er lässt in seiner Arbeit «Archiv einer Kindheit» sein Aufwachsen in und um Uster Revue passieren. Gespickt mit sehr Persönlichem, Wichtigen, und gänzlich Irrelevantem, gibt er in seiner 48-teiligen Serie einen Einblick in die 25 Jahre, die er in Uster gelebt hat. Dabei liegt der Fokus weniger auf dem was tatsächlich gewesen ist, sondern vielmehr darauf was die Erinnerung hergibt.

Gian ging es in dieser Arbeit um das Erinnern. Erinnern um zu Dokumentieren, was war und was durch die Erinnerung Gewicht bekommt. Sehr oft sind es die kleinen scheinbaren Unwichtigkeiten, an die die Erinnerung am Lebhaftesten scheint. Durch die Abstraktion der Erinnerung versucht er die Möglichkeit zu schaffen, dass sich andere Menschen auch an ihre früheren Bezugspersonen, Lehrer:innen oder Lieblingsorte erinnern…

Alle Sujets findest Du unter Archiv. Unter Text findet sich ein literarischer Kommentar der Autorin Valérie Hug. Die Plakate hängen jeweils an den Kunstplakatstellen der Stadt Uster, die Standorte findest Du auf der Karte:

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